Webentwicklung: Warum es wichtig ist, dass wir uns das Leben schwermachen
Artikel vom 20. Februar 2018. ISSN 1614-3124, #58. Schwerpunkt: Webentwicklung (RSS-Feed für alle Themen).
Irgendwann einmal kam das provokante Thema auf, dass Webentwickler keine Debugging-Werkzeuge brauchen. Das war halb Scherz und halb Ernst; wir kamen zu der Zeit gerade aus dem Mittelalter der Webentwicklung, mit großem Mangel an nützlichen Tools, Frameworks, Bibliotheken; wir befanden uns nicht ansatzweise in der Nähe der Werkzeugfettleibigkeit, in der wir uns heutzutage befinden.
Manch einer nahm die Absicht und den Nutzen der Idee sofort wahr, denn es gibt hier, auch wenn ich nicht groß philosophisch daherkommen will, ein recht interessantes Spannungsverhältnis. Auf der einen Seite machen gute Werkzeuge unsere Arbeit (und unser Leben) effizienter, produktiver, einfacher. Aber auf der anderen Seite – und das sollte ehemals betont werden, genauso wie wir es dieser Tage ebenso stark beobachten – hilft uns Mangel an Werkzeugen, bessere Prioritäten zu setzen, uns zu konzentrieren, unser Handwerk besser zu verstehen und zu betreiben.
Wie auch in anderen Situationen im Leben können wir das Leben mit Werkzeugen nicht so einfach mit dem Leben ohne Werkzeuge vergleichen. Diese Leben sind zu unterschiedlich, und die Vereinfachung naiv. Mit Werkzeugen gibt es nicht einfach nur Sonnenschein. Es mag ja auch toll sein, wenn wir uns vorstellen, Staatschefs zu sein, aber der Unterschied besteht auch hier nicht nur darin, dass wir einfach mit mehr Machtfülle aufwachen.
Was dies nun bedeutet ist in erster Linie Bewusstsein. Das technische Leben mitsamt seiner Werkzeuge ist super, aber es verändert viel, und diese Änderungen sind nicht ausnahmslos positiv. Für mich steht fest, dass das Problem der Ausbildung (dass heutzutage viele Webentwickler nicht mehr mit Kerntechnologien vertraut sind) sowie das Problem der Qualität (vom Aus-dem-Ruder-Laufen des Gewichts unserer Websites und -apps bis hin zu einem generellen Defizit an Fokus auf Code-Qualität) beide auf diesen Mangel an Bewusstsein rekurrieren. Unsere Entwicklerwerkzeuge sind in dieser Hinsicht wie süchtigmachende Zuckergetränke: Sie machen unsere Websites fett.
Was dies ebenfalls bedeutet ist Auswahl, zur Entscheidung. Nicht wie in »entweder/oder«, sondern dass es nicht erforderlich ist, Werkzeuge überall zu verwenden. Ich selbst beispielsweise betreibe mehrere Websites von niedriger Komplexität, wo ich absichtlich den Einsatz eines CMS vermeide. UITest.com ist eine solche Site. Manchmal schmerzt das, da ich zusätzlichen Aufwand betreiben muss, diese Websites zu pflegen. Aber insgesamt nutzt es mir, da mich der Schmerz bewusster macht, was Wartungsprobleme anbelangt, und mir damit hilft, besser zu werden, was Wartung anbelangt. Nochmal, hüten wir uns vor dem Zucker. Und wenn wir immer Rolltreppen und Aufzüge benutzen, wie fit sind wir dann je, wenn es darum geht, eine Treppe zu nehmen?
Schlussendlich trifft jeder von uns diese Entscheidungen, ob nun informiert oder uninformiert. Ein höheres Bewusstsein dieser Problematik wird uns zu bewussteren Auswahlen führen und idealerweise auch zu besseren Diskussionen; denn die verschiedenen Auswahlen führen zu recht einmaligen Entwicklerprofilen – mit jeweils ihren eigenen Stärken.
Ăśber mich
Ich bin Jens (lang: Jens Oliver Meiert), und ich bin ein Frontend-Engineering-Leiter und technischer Autor/Verleger. Ich habe als technischer Leiter für Firmen wie Google und als Engineering Manager für Firmen wie Miro gearbeitet, bin Mitwirkender an verschiedenen Webstandards und schreibe und prüfe Fachbücher für O’Reilly und Frontend Dogma.
Ich experimentiere gerne, nicht nur in der Webentwicklung (und im Engineering Management), sondern auch in anderen Bereichen wie der Philosophie. Hier auf meiert.com teile ich einige meiner Erfahrungen und Ansichten. (Bitte sei kritisch, interpretiere wohlwollend und gib Feedback.)
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