Über den Druck auf junge und unerfahrene Entwickler
Artikel vom 5. Mai 2022. ISSN 1614-3124, #71. Schwerpunkt: Verschiedenes (RSS-Feed für alle Themen).
In unserem Feld gibt es einen traurigen »Running Gag«: »Suche Junior-Entwickler mit fünf Jahren Berufserfahrung.« (Beispiele: 2019, 2020, 2021.)
Der Widerspruch ist deutlich: Wir können kaum Erwartungen an juniore oder generell junge und unerfahrene Entwickler (und ebenso Entwicklerinnen) haben.
Irgendwelche Erwartungen, die wir setzen, ändern das Profil, für das wir anstellen. Um beim populären Beispiel zu bleiben, wenn wir nach jemand mit fünf Jahren Erfahrung suchen, suchen wir nach einem Medior. Keinem Junior. Wenn wir an diesen Erwartungen festhalten und insistieren, damit einen Junior, einen Werkstudenten oder gar einen Praktikanten einzustellen, wird es lächerlich (und ausbeuterisch).
Die Folgen unrealistischer Erwartungen
Während wir unseren Durst nach erfahrenen Entwicklern kennen und sehen, wie sich dieser Durst bis auf Einsteigerrollen erstreckt, mögen wir nicht unbedingt beachten, was unrealistische Erwartungen für junge und noch nicht erfahrene Entwickler bedeuten.
Wir zeigen wenig Respekt. Von jemand zu verlangen, einen Standard zu erfüllen, dem sie unmöglich gerecht werden können, bedeutet wenig Wertschätzung dafür, wer sie sind, was sie mit sich bringen und was sie bereits erreicht haben.
Wir entziehen uns unserer Verantwortung, auszubilden und zu coachen. Indem wir tun, als ob Kandidaten schon alles wissen, kann man sagen, dass wir tricksen, diese dann nicht mehr trainieren meinen zu müssen. Der jeweilige Kandidat mag das durchschauen, aber wir mögen uns immer noch selbst für dumm verkaufen, so, dass es uns mehr schadet als nützt, weil wir uns neben der Verantwortung auch dem eigenen Wachstum an Führungsaufgaben entziehen.
Wir erzeugen übergroßen Druck auf Kandidaten. Unrealistische Erwartungen kreieren Druck. Ein junger oder unerfahrener Entwickler hat schon genug davon – schließlich versucht er gerade, einen Fuß in die Tür zu kriegen, um seine (neue) Laufbahn zu starten. Das ist schwer. Pack überharte Anforderungen oben drauf und es wird noch schwerer.
Wir bereiten Kandidaten für den Misserfolg vor. Wenn wir absichtlich oder unabsichtlich unserer eigenen Verantwortung nicht nachkommen und statt dessen Druck auf junge und unerfahrene Entwickler aufbauen, tragen wir zu deren Misserfolg bei. Wir machen es ihnen schwerer, im Feld Fuß zu fassen, und wir machen es ihnen schwerer, sich im Feld zurechtzufinden und erfolgreich zu sein.
Gesünderes Rekrutieren
Anstatt die Erwartungen immer höher zu schrauben, sollten wir die Erwartungen an junge und unerfahrene Entwickler herunterdrehen – und statt dessen die Erwartungen erhöhen, sie auszubilden und zu coachen.
Es gibt verschiedene Gründe, jemand einzustellen, der jung und nicht erfahren ist, aber wir müssen ganz ausdrücklich davon weggekommen sein, dies zu tun, um sie auszunutzen. Das ist ein niederer, ein fürchterlicher Grund, und die, die dadurch motiviert sind, sind weder geeignet einzustellen, noch zu führen.
Die besten Gründe umfassen, dass du etwas für den Kandidaten und die Gemeinschaft tun möchtest, und dass du einstellst, weil du es als Teil deines Auftrags betrachtest, neue Talente zu trainieren und hochzubringen.
Ein Ansatz
Ich passe meine Management- und Führungsphilosophie immer noch an. Hier aber ist mein persönliches Denken über junge und noch wenig erfahrene Entwickler:
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Allgemein gibt es ein »hybrides« Ziel für jedes Engineering-Team, Arbeit abzuschließen, gute Arbeit zu leisten und Arbeit voranzutreiben; und dies auf eine Weise zu tun, die zu einer gesunden und vielfältigen Arbeitsumgebung und -kultur führt.
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Junge und unerfahrene Entwickler können nicht sofort zum ersten Teil des Ziels beitragen, sind aber bereits ein Schlüssel für eine gesunde Umgebung und Kultur. Sie mögen dafür so wichtig sein, dass ein Junior- in manchen Konstellationen ein Team effektiver machen kann als ein Senior-Entwickler – allein deshalb, weil dies eine »Senioritätsmonokultur« vermeiden mag.
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Beim Einstellen junger und unerfahrener Entwickler ist es fair, zu verlangen, dass sie eine erste Verbindung zum Feld haben – dass sie Informatik studiert haben, dass sie durch ein Entwickler-Bootcamp gegangen sind oder dass sie bestimmte technische Projekte betreiben.
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Wichtiger sind nun zwischenmenschliche Fähigkeiten: Ist die Person »wach«, ist sie motiviert, passt sie gut zur Kultur?
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Der Rest ist dann Verantwortung des Managers und des Teams: Sie sind nun verantwortlich, das neue Teammitglied auszubilden, zu trainieren und zu führen, so dass dies erfolgreich sein kann (zu dem Grad, dass das neue Teammitglied auch seine eigene Verantwortung annimmt).
❧ Das Einstellen von Junioren, von jungen und nicht erfahrenen Entwicklern ist wichtig und wunderbar. Aber die Herausforderung ist ihre Ausbildung und ihr Training, und diese Verantwortung sollte bei uns bleiben, und nicht auf diese neuen Talente abgeschoben werden, indem unrealistische Erwartungen gesetzt werden. Lasst uns den Druck auf uns packen, die erfahreneren Entwickler und Manager, und ihn auf neue Kollegen damit reduzieren. Das ist sehr viel besser, für jeden.
Über mich
Ich bin Jens (lang: Jens Oliver Meiert), und ich bin ein Frontend-Engineering-Leiter und technischer Autor/Verleger. Ich habe als technischer Leiter für Firmen wie Google und als Engineering Manager für Firmen wie Miro gearbeitet, bin Mitwirkender an verschiedenen Webstandards und schreibe und prüfe Fachbücher für O’Reilly und Frontend Dogma.
Ich experimentiere gerne, nicht nur in der Webentwicklung (und im Engineering Management), sondern auch in anderen Bereichen wie der Philosophie. Hier auf meiert.com teile ich einige meiner Erfahrungen und Ansichten. (Bitte sei kritisch, interpretiere wohlwollend und gib Feedback.)
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